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Kyro Ponte: Der Apfel fiel aus Venus linker Hand

  634 Wörter 2 Minuten 1.096 × gelesen
2018-01-09 2018-01-09 09.01.2018

Die Erzählungen dieses Bandes unterscheiden sich auf den ersten Blick fundamental. Sie spielen zu unterschiedlichen Zeiten, werden von völlig verschiedenen Charakteren durchlebt und kommen in unterschiedlichen erzählerischen Formen daher. Aber sie alle haben auch eine gemeinsame Thematik: das Thema der Krise und der Freiheit, die nicht selten in der Form einer Erlösung erscheint. Zudem hat diese Krise in allen Erzählungen etwas mit Entfremdung, Fremdheit auf dem Weg und schließlich der Heimkehr, dem Nach-Hause-Kommen, zu tun. Das Auf-dem-Weg-Sein, die Migration, spielt stets eine wesentliche Rolle, tatsächlich oder im übertragenen Sinne. Daher bildet der vorliegende Erzählband von Kyro Ponte ein Kaleidoskop von Erfahrungen, die die Krisen des modernen Menschen im heutigen Europa spiegeln, zugleich aber auch die existenziellen Bedingungen menschlichen Seins reflektieren. 

So erfährt im Spanien des 16. Jahrhunderts die Künstlerin Byzantia in einer Art Vision vor dem Tode ihr Leben als Weg durch das Leid (Die Anemonen). Im Rückblick wird ihr Leben immer schwerer, je älter, erwachsener sie wird. Ihre Spur ist eine Spur wie aus Blutstropfen, die zu Anemonen werden oder an diese erinnern. Eine geradezu priesterhafte Schar von alten Männern verfolgt sie, aber sie wird von einer Lichtgestalt erlöst und hat etwas Bleibendes hinterlassen: Logothetis, ihren Sohn. 

Ähnlich visionsartig ist auch die Schilderung in Happiness Report, der letzten Erzählung des vorliegenden Bandes. Hier erfolgt die Flucht aus der »Verzweiflung einer Winternacht«, begründet durch die Sehnsucht nach Licht, Sonne, dem Streben nach Wissen und Erfüllung. Die Migration führt durch Unsicherheit, Entfremdung, vorbei an Sirenen und Lotophagen. Vage klingt die Migrationserfahrung eines Griechen nach Norden, vielleicht nach Deutschland, mit. Die Rückkehr erfolgt schließlich, die Erinnerung ist noch da und kann nun in Freude verwandelt werden. 

In der Klammer dieser beiden visionären Erzählungen gibt es andere, die dem alltäglichen Leben dem ersten Anschein nach viel näher sind: In Der Fehler versucht eine Frau durch eine Schönheitsoperation ihrer Krise zu entkommen, die dem Verdikt Hässlichkeit gleich Verdammnis entsprungen ist. Hier ist das Thema Fremdheit durch eine innere Entfremdung angesprochen. In Gemeinsame Mahlzeiten wird eine Paarbeziehung dargestellt, die von Festhalten und Flucht geprägt ist und vielleicht eine Art Freiheit in den immer wieder versöhnlich eingenommenen gemeinsamen Mahlzeiten bereithält. 

Im Konflikt enden zwei Erzählungen, die zeigen, dass es nicht immer eine Heimkehr aus der Entfremdung gibt. Ein streunendes Leben stellt eine Tübinger Katze in Griechenland dar, die heruntergekommen und verwahrlost in Thessaloniki lebt. In der Fremde wird die einst so geliebte Samtpfote von ihrem Besitzer einfach auf die Straße gesetzt, nachdem dieser arbeitslos geworden ist und sie von Marlene in »Merkel« umbenannt hatte. Sie erfährt zwar am Ende eine Art Genugtuung, eine Rache an dem Mann, aber zugleich mündet dies auch in Gewissensbissen, die nur dadurch »glimpflich« enden, dass am Ende nichts Schlimmes passiert ist. In Die Schlüssel wird eine junge Frau im 19. Jahrhundert von ihrer Mutter mit einer Kette aus magischen Schlüsseln gefesselt, die erst gelöst werden, wenn sie sich in das neue Gefängnis einer Ehe begibt. Auch hier werden Heimkehr und Freiheit verwehrt. 

Die expliziteste Parabel auf die heutige Krisensituation in Europa erfolgt in dem Märchen Zwei ungleiche Freunde. Ausbeutung entsteht zwischen den Polen der Tüchtigkeit, die nur auf ihren Vorteil bedacht ist, wenngleich sie andere Euphemismen dazu verwendet – nämlich die »Freundschaft« –, und der treuherzigen, fleißigen Selbstaufgabe des Schwächeren. Am Ende bleibt diesem nur noch das Licht, die Sonne als Symbol für die ersehnte Freiheit. 

Diese immerhin erscheint am Ende meistens, zumindest am Horizont. Die Möglichkeit der Heimkehr ist – fast – immer da, die Möglichkeit zur Verwandlung in Freude immer gegeben. Trotz allem Verstörenden sind die hier gesammelten Erzählungen also keine rein destruktiven Erfahrungen. Die Heimkehrlegende, der Nostos der Helden, endet versöhnlich. 

Von Dr. Carsten Drecoll

Seiten : ca. 160
Cover : Softcover mit Klappen: 20 x 11,5 cm
Sprachen : deutsch
Hrsg./Autor : Kyro Ponte
Erscheinungsdatum : 1. Oktober 2015
aktuelle Auflage : 1
ISBN : 978-3-95771-065-9
e-ISBN : 978-3-95771-066-6